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Journalismus von morgen - mit Theorien von gestern

Wie sehr doch wieder alles zusammenpasst und sich im weiten Meer des World Wide Web die richtigen Schollen doch wieder begegnen: Gestern Abend zeigte die Reportage "Journalismus von morgen - Die virtuelle Feder" 90 Minuten sehr eindrucksvoll und hintergründig auf arte, wie sich Zeitungen mit der Digitalisierung verändern - oder auch nicht. Und heute Morgen diskutiert zumindest meine halbe Twitter-Timeline eine neue Studie, die festgestellt hat, dass die Schweigespirale auch in Social Media besteht und daher keinen Meinungspluralismus zulässt. Besonders laut kommentierten das übrigens Blogger, die eine Meinungsführerschaft oder bestimmte Sichtweise in bestimmten Dingen gerne mal für sich beanspruchen und nicht wirklich am Diskurs interessiert sind, aber das nur am Rande.

Man muss sich da wundern. Erstens ist das nicht neu, damit beschäftigte sich der ehemalige Kollege Konrad Lischka schon 2011, und auch 2006 wurde die Theorie schon mal auf die Blogosphäre angewendet. Und natürlich wird es da immer drum gehen, wo Medien mit im Spiel sind: dass Menschen Nachrichten nicht so interpretieren, wie sie gemeint sind. Dass Nachrichten sie gar nicht erst erreichen. Dass immer andere Nachrichten für bestimmte Gruppen filtern und damit Sichtweisen "aufdrängen" und dass dann am Ende von all diesen Prozessen steht, dass diese wie auch immer marginalisierten Rezipienten eigentlich gar keine sind, weil sie nicht am Diskurs teilnehmen können.

Leider begreifen das Journalisten viel zu selten, scheint mir. Weil sie halt auch gerne (Meinungs-)Macht haben. Schon Kurt Tucholsky geißelte in der Weimarer Republik diese Ignoranz des Lesers als Ergebnis des größtmöglichen Profits - damals hieß das ja tatsächlich noch, möglichst viele Zeitungen verkaufen zu können. Und er warnte davor, sich als Medium zu ernst und den Leser als zu dumm zu nehmen.

 

"Der Journalist als Urheber von Nachrichten hat ausgedient", sagt der Philosoph Besnier in "Die virtuelle Feder". Er sei lediglich noch der Überbringer - und das in einem non-linearen System, meint er, in seiner Höhle voll Büchern sitzend. Ganz nebenbei behauptet die Reportage, dass der Leser in Europa und in den USA keine Rolle für die Verlage spiele, während der Besuch in Indien klar macht, dass hier die Zeitung ihre gesellschaftliche Rolle von Bildung und Orientierung (etwas, was in deutschen Diskussionen über das Überleben von Zeitungen immer noch gern als Existenzberechtigungsargument kommt) übererfüllt. Sie will sogar keine Leser, sondern Anhänger, erklärt der Herausgeber und Leiter des Zeitungskonzerns in Jaipur.

Nur: Journalisten haben noch nie Nachrichten gemacht, sondern sie höchstens aufgespürt. Nachrichten passieren. In sofern war man in dem Beruf schon immer der Überbringer, und diese Rolle ist ehrwürdig genug, sie reicht ja bekanntlich auch bis in die Antike zurück, wo der Rezipient dann auch noch wirklich physisch Kontakt hatte mit dem Überbringer, der die Nachricht direkt aufsagte oder verlies.

Zeitungen haben eher eine Distanz in dieses Verhältnis gebracht, denn als Trägermedium brachten sie den Urheber/Aufgreifer der Nachricht nicht mehr direkt mit dem Rezipienten zusammen. Viele Print-Kollegen haben sich in diese Bequemlichkeit zurückgezogen. Sie glauben, dass sie Information und Bildung betreiben, wissen aber nicht, ob das, was sie nachrichtlich so verpacken, auch so bei ihren Rezipienten ausgepackt wird und ergo ankommt. Und sie glauben immer noch, dass sie Teil eines gesellschaftlichen Prozesses sind, bei dem der Klügere gewinnt - und überlebt. Beide Seiten, die Produzenten und die Rezipienten, glauben, sie wären der Taktgeber. Sie begegnen sich nicht, oder wenn, dann nicht auf Augenhöhe.

Der britische Wissenschaftler und Cultural-Studies-Veteran Stuart Hall hat dies schon früh für die Rezeption von Fernsehnachrichten in Großbritannien erkannt. Sein Modell Encoding/Decoding ist meiner Meinung nach auch auf die Entwicklung des Journalismus und von Diskursen im Internet anzuwenden. Es ist von 1973 und für mich eines der wichtigsten kritischer Medienrezeptionsanalyse. Hall erforschte damals, wie TV-Nachrichten semiotisch/kulturell/inhaltlich "verschlüsselt" (encoded) werden, schlicht durch die Form der Nachrichten und die Art ihrer Darbietung, und wie sie vor dem Hintergrund derselben Faktoren bei den Rezipienten "entschlüsselt" (decodiert) werden. Er kam zu dem Schluss, dass erstens viele Rezipienten sehr eigenbestimmt und kreativ mit Nachrichten in ihrem Alltag umgehen und zweitens wieder andere Gruppen überhaupt nicht erreicht werden - und das vermutlich von der Produktionsseite her auch gar nicht so gewünscht ist.

Halls Modell ist wichtig, weil es erstens der erste theoretische und methodische Beitrag in der Medienforschung der Cultural Studies war, zweitens aber semiotische, hermeneutische und strukturalistische Überlegungen mit sozioökonomischen Faktoren und Alltagspraktiken der Rezipienten zusammenbrachte, sich also auch um Produktionsbedingungen des Fernsehens und die Produktion von Bedeutung kümmerte. Damit wurde erstmals in der Kulturforschung der Kommunikationsprozess als nicht-transparent und nicht-linear formuliert. Und davon kann man heute auch noch ausgehen. Deswegen ist die Informationsschwemme heute durch die Digitalisierung auch nicht schlimmer als damals, nur anders.

 

Dem "information overload" und Dingen, die sie schlicht nicht verstanden haben, sind Menschen auch schon früher aus dem Weg gegangen. Andererseits haben Journalisten noch nie wirklich erfahren, wie Nachrichten im Alltag von Menschen nachwirken und wie genau sie ihnen von Nutzen sind.

Die digitale Revolution bietet hier gerade grandiose Möglichkeiten, dies endlich besser zu begreifen. Entscheidend ist natürlich (zumindest in westlichen Gesellschaften) der konkrete, auch haptische Nutzwert. Die App für Google Glasses, die mich durch New York leitet und mir dabei die Nachrichten vorliest. Es geht aber immer noch um Richtungen und Lesarten, eine Art subtile Orientierung, und damit, ja, viele Kollegen mögen das überhaupt nicht, aber was ist eigentlich so schlimm daran: um Markenbildung.

Denn durch das Internet und Social Media rücken Journalisten wieder näher an die Rezipienten ran, sie sind als Überbringer und Aufbereiter einer Nachricht wieder eher greifbar, das Medium hat ein Gesicht. Auch das verdeutlicht die arte-Doku "Journalismus von morgen - Die virtuelle Feder". Der Begriff "Informationsprofi im Journalismus-Ökosystem" hat mir in diesem Zusammenhang besonders gut gefallen. Menschen werden, so lange sie Nachrichten konsumieren, dies immer in ihrem ganz eigenen Kontext tun, den wir vermutlich nie ganz verstehen werden. Ihnen aber beim Konsumieren zu begegnen, erhöht die Chancen, Nachrichten auch so bei ihnen ankommen zu lassen, wie wir sie platzieren, meinen, gedeutet haben wollen - und damit Leser zu binden. Der Journalismus an sich ist nicht kaputt. Er muss sich nur weiter auf sein Ziel konzentrieren: den Rezipienten.

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