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Die Ehe für alle kommt - Warum ich mich nicht freuen kann

Mutti hat sich zu Gast beim "Brigitte"-Live-Talk verplappert. Beziehungsweise hat sie, von der Angst getrieben, nach der Bundestagswahl keinen Koalitionspartner zu haben, ihr Bauchgefühl Richtung Gewissen verschoben und eingeräumt, man könne ja vielleicht doch über die Ehe für alle reden. Abstimmen, und die Gleichstellung für Lesben und Schwule doch ermöglichen.

 

Plötzlich ist es eine "Gewissensentscheidung" für etwas "doch sehr Individuelles". Auch mit dem Vollhorst war das schon abgestimmt. Wäre interessant zu wissen, was der CSU dafür versprochen wurde.

 

Es ist kein gutes Gefühl, wenn man nur Spielball der Politik ist, und das auch mal wieder so reingedrückt bekommt. Meine eigentlich per Grundgesetz garantierten gleichen Rechte - welchen Gegenwert haben sie? Den eines Verkehrsministeriums, das mimimi-mäßig die nächste Maut-Entscheidung durchboxt? Den eines Gesundheitsministeriums, das durch Einführen der Gesundheitskarte mehr Überwachung und Datensammeln ermöglicht? Oder ist die Tatsache, dass ich nun bald "richtig" heiraten darf, Mutti noch einen Flüchtlingsdeal mit Seehofer wert? Wie, das langt Horsti nicht? Komm, für 10 Prozent potienzielle Wähler_innen legt Merkel noch mal drei Staatssekretäre drauf!

 

Das Kindeswohl war noch nie das Problem

 

Merkel entdeckt ihr Gewissen genau dann, wenn sie nicht mehr gewinnen kann. Vorgeschobene, auf die Tränen-der-Rührung-Drüse gedrückte Erklärung: eine persönliche Begegnung in ihrem Wahlkreis. Ein lesbisches Paar habe sie eingeladen. Die beiden Frauen hätten acht Pflegekinder, so verbreitete es die Deutsche Presse-Agentur, und Merkel hätte sich gedacht: Also, wenn das Jugendamt einem lesbischen Paar so viele Pflegekinder anvertraut, dann kann das nicht verkehrt sein. Dann kann der Staat das auch. Nur: Die Kanzlerin war nicht bei der Regenbogen-Pflegefamilie. Und diese hat auch nicht acht Pflegekinder.

 

Und: Dass Pflegekinder es in lesbischen oder schwulen Haushalten gut haben, ist keine neue Erkenntnis. Erstens gibt es seit 2009 eine Studie, die erste, unter Schwierigkeiten von der damaligen Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) durchgeboxt, die feststellte, dass es Kindern generell in Regenbogenfamilien nicht schlechter geht als Kindern in heterosexuellen Haushalten. (Hier übrigens noch ein repräsentatives Ergebnis zum Thema.) Hätte Merkel wissen können, war schon öfters diskutiert worden.

 

Zweitens ist genau die Sache mit den Pflegekindern ein Riesen-Politikum. Denn es ist kein Geheimnis, dass Jugendämter zu lesbischen und schwulen Paaren gerne auch mal "Problemfälle" schieben. So nach dem Motto: Kinder, die sonst keiner will, zu Eltern, die sonst keiner will. Und hier wird übrigens überhaupt nich hinterfragt, ob diese gleichgeschlechtlichen Eltern dann auch Eltern sein können. Der Staat ist nahezu darauf angewiesen, dass das Modell klappt. Weil es leider ansonsten zunehmend kaputte Familien gibt, in denen Kinder und Jugendliche nicht mehr bleiben können. Und um dieses Problem zu lösen, fragt seit Jahren schon keiner mehr nach der sexuellen Identität von Pflegeeltern. Das kann keine Überraschung für Merkel sein, das dies so ist. Jedenfalls nicht, wenn es ihr, wie sie seit mindestens fünf Jahren bei dem Thema betont, um das Kindeswohl geht. Wir erinnern uns: Das Kindeswohl in Regenbogenfamilien und das Adoptionsrecht waren die Aspekte, die ihr in Sachen Ehe-Öffnung Bauchschmerzen verursacht haben. Und schon damals war es genau wegen Merkels ungutem Bauchgefühl schon ein falsches Argument, Lesben und Schwulen die Ehe zu verweigern. Denn Kinder müssen rechtlich abgesichert sein. Und Kinder haben ein Recht auf eine glückliche Familie, egal, wie sie aussieht. Nein, ich kann mich nicht freuen.

 

Allerdings ist Merkel da ungewollt auf Linie mit der AfD und der Anti-LGBTTIQ-Bewegung "Demo für alle". Die haben sich ja auch nie für schon bestehende Realitäten in Sachen Familie interessiert und ergo Regenbogen-Pflegefamilien nicht wahrgenommen. Ist auch schwierig, sonst könnte man nicht mehr undifferenziert mit falschen Fakten weiter propagieren, dass Lesben und Schwule keine Kinder haben sollten, und wenn Kinder da sind, sei das bestimmt nicht gut für sie, eine Minderheit zwänge der Allgemeinheit eine Verschwulung und dieses Gender-Dings auf, und überhaupt sei damit ja der Weg zu Viel-Ehe und "Ich heirate meine Katze" geöffnet.

 

"Demo für alle"-Frontfrau Hedwig von Beverfoerde, bis Anfang des Jahres selbst noch CDU-Mitglied, war offenbar so sprachlos, dass ihr nichts Besseres einfiel, als ihre Ex-Partei einfach nur uninspiriert für völlig degeneriert zu erklären. Alice Weidel, AfD-Bundesvorsitzende in spe, selbst lesbisch, zwei Kinder, von der unter Rot-Grün geschaffenen Eingetragenen Lebenspartnerschaft profitierend, schoss vorgestern den Vogel ab mit dem Statement "Ehe für alle, während das Land islamisiert wird?". Die "Demo für alle" wird also demnächst ihre Demo wohl vor dem Bundeskanzleramt abhalten müssen. Und die CDU? Widerspricht all diesen konservativ bis rechten Tendenzen und Äußerungen nicht, so wie es die Partei schon die ganze Zeit hält. Ein Hinweis auf Menschlichkeit, Demokratie und Gleichberechtigung wäre ja schon toll gewesen und hätte schon genügt, ohne dass man jetzt große LGBTTIQ-Zugeständnisse hätte machen müssen. Und das, Frau Bundeskanzlerin, wäre übrigens richtige Größe, für die ich Sie respektieren würde! Aber nein, man könnte ja den ein oder anderen konservativen Wähler vergraulen. Immer noch bzw. jetzt erst recht, und bis September ist es ja nicht mehr lang hin. So viel ist das wiederentdeckte Gewissen dann doch nicht wert. Nein, ich kann mich nicht freuen.

 

So weit, so erwartbar. Und dann soll plötzlich alles ganz schnell gehen. Die SPD treibt die CDU ebenfalls aus taktischem Kalkül und vermutlich Schadenfreude vor sich her und riskiert einen Koalitionsbruch (was ja kurz vor Ende dieser GroKo auch nichts mehr macht, und durch die nahende Sommerpause passiert politisch ja eh nichts mehr in dieser Legislaturperiode). Aber die SPD hat sich in dieser jahrelangen Hängepartie zur Ehe-Öffnung auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das wollen wir mal nicht vergessen. Schon zwei Mal wurde im Wahlkampf vor einer Bundestagswahl damit geworben, Lesben und Schwule gleichzustellen. Zwei Mal wurden Wahlversprechen gebrochen. Bei den Koalitionsverhandlungen 2013 knickte die SPD vor der CDU ein. Die Ehe-Öffnung wurde nicht Bedingung, sie kam als Ziel nicht in den Koalitionsvertrag. Thomas Oppermann kündigte im März dieses Jahres einen entsprechenden Gesetzesentwurf an - dabei gab es ja schon längst einen, vom Bundesrat beschlossenen, der bisher am Widerstand der Unionsparteien scheiterte. Über 50 Mal allein im Rechtsausschuss, um genau zu sein.

 

Mein Höhepunkt, der das Fass zum Überlaufen brachte und die alte Tante unwählbar machte: 2012 gab es, auch hier erinnern wir uns bitte, bereits eine namentliche Abstimmung über die Ehe für alle im Bundestag. Viele SPDler fehlten und konnten gar nicht abstimmen. Ebenso die Kanzlerin und die damalige Familienministerin Kristina Schröder. Besonders eklatant: Auch Brigitte Zypries, einst als Bundesjustizministerin Vorkämpferin für die Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen, fehlte ebenfalls. Darauf in Social Media angesprochen, reagierte sie auch noch patzig. Schon 2012 war ihr vermutlich Start-up-Förderung in Berlin wichtiger, die sie dann als Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium fleißig betrieb. Immerhin gab's dafür nach zähen Jahren zum Schluss der Legislaturperiode ja auch noch einen Minister-Posten. Gleichberechtigung? Kein wichtiges Thema mehr anscheinend. Dass 2012 der Antrag der Grünen scheiterte, ist auch Schuld der SPD.

 

Die SPD entdeckte das Thema Ehe-Öffnung immer dann für sich, wenn es eng wurde und es opportun erschien, die queere Community als Wahlvieh mal wieder hinter sich zu versammeln. Nur war das Wahlvieh nach etlichen Enttäuschungen schlau und ließ sich nicht mehr einfach so vor den Karren mit dem Versprechen "gleiche Rechte jetzt!" spannen. Denn schon 2015 begann es sich eher so anzufühlen, als würde das queere Wahlvieh zur Schlachtbank geführt, ob als lästige Verhandlungsmasse der SPD oder einer anderen Partei war da egal. Die meisten von uns konnten es da schon nicht mehr glauben, wenn ein Genosse mal wieder brüllte: "Jetzt setzen wir uns für euch ein!". Für uns? Oder nicht eher für die Zukunft eurer Werte verratenden Partei (die Rente ist da ja auch noch so eine Sache)? Und jetzt soll ich mich echt freuen? Und vermutlich noch dankbar sein?

 

Ich bin kein Freundin von Thomas Strobl (CDU), aber es ist schon etwas Wahres dran, als er vorgestern sagte, er habe kein Verständnis dafür, wenn ein so ernstes Thema "im Schlussverkauf des Deutschen Bundestags einmal geschwind auch mit erledigt wird". Er sagt das aus anderen Gründen als ich, aber genau so fühlt es sich an. Die Ramschware hat nun lange genug gelegen, den Gewinn braucht man aber, also verscherbelt man sie eben auch noch schnell. Ich könnte und sollte das Aufgebot bestellen. Jetzt. Aber ich kann mich nicht freuen.

 

Hallo, Anti-Diskriminierungsplan!

 

Apropos "Deutschlands Zukunft gestalten": Okay, ich kann also heiraten. Schneller als gedacht. Wie gesagt, ich kann mich nicht darüber freuen. Aber da war noch was, liebe SPD und CDU. Der nationale Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie bzw. die Erweiterung des bestehenden Anti-Diskriminierungsplans um die Punkte Homosexualität und Transsexualität. Bitternötig, denn erst am Wochenende war wieder ein brutaler Überfall auf ein lesbisches Paar in Berlin, übrigens direkt am Reichstagsufer. Diesen Aktionsplan habt ihr im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Nach einer Anfrage der Grünen war eine Kabinettsvorlage Anfang des Jahres geplant. Passiert ist wieder einmal: nix! Wenn ihr es wirklich ernst meint mit eurer neu entdeckten Liebe für Lesben, Schwule, trans* und queere Deutsche, dann kommt der ja auch noch ganz schnell, jetzt, oder? Bitte hier auch eine Abstimmung ohne Fraktionszwang. Dafür ist doch Freitag bestimmt noch Platz. Bevor das Thema Linksextremismus nach dem G20-Gipfel wieder kommt. Oder die CSU noch ein Ministerium fordert. Meine Stimme im September halbt ihr noch lange nicht.

 

Die Entscheidung jetzt ist kein Grund zur Freude. Und schon gar kein Geschenk. Viele für uns haben jahrelang hart gekämpft. Und dann bin ich plötzlich gleichberechtigt, also ab dem 7. Juli, bloß weil Merkel sonst keinen Koalitionspartner mehr hätte? So wie ich nicht einfach so heirate, werde ich auch nicht einfach so schnell eine Wahl-Entscheidung treffen. Drum prüfe, wer sich ewig binde.

 

(Foto: Vor dem CSD in Frankfurt 2013 mit und für SchLAu Darmstadt)